2022

Theater

„…DIE SÜNDE DES ANDERSARTIGEN ZU RISKIEREN“

Premiere 6. MAI 2022 (verschoben von 2020)

Wiederaufnahme 21. APRIL 2023

KULTURAMBULANZ Klinikum Bremen Ost

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Text (in Zusammenarbeit Dr. Anna Suchard), Bühne, Regie

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Dramatisierung einer historischen Patientenakte am Ort des Geschehens.

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Auf Einladung des „Theater der Versammlung / Zentrum für Performance Studies“ der Universität Bremen und gemeinsam mit professionellen Theatermacher*innen und Studenten unterschiedlicher Fachbereiche, erarbeiteten wir ein Stationentheater auf dem Gelände des Klinikums Bremen Ost, dem ehemaligen St. Jürgenasyl für Geisteskranke in Ellen bei Bremen. 

Pressetext:

„…in der Irrenanstalt bleibe ich nicht, Gott sei Dank“,

schreibt Hedwig D. 1909 aus dem St. Jürgen-Asyl in Ellen (heute Klinikum Bremen-Ost) an ihren Vater. 1908 war sie auf sein Betreiben entmündigt worden und hielt sich deshalb in den Jahren bis 1912 wiederholt in der psychiatrischen Anstalt auf: anfangs freiwillig, um sich geistige Gesundheit attestieren zu lassen, dann gezwungenermaßen. Man wirft ihr „homo- und heterosexuelle Exzesse“ vor, sowie einen „zwanghaften Hang zur Lüge“. Der passt gut zum neudefinierten Krankheitsbild der „Pseudologia fantastica“, das Dr. Delbrück, Direktor der Anstalt, just formuliert hatte. Die Diagnose lautet „Moralische Idiotie“. Während ihrer mehrmonatigen Aufenthalte im St. Jürgen-Asyl zwischen 1908 und 1912 kämpft Hedwig D. um ihre Entlassung, verbündet sich mit Krankenschwestern, flieht und wird wieder zurückgebracht. Ihre Geschichte gibt Zeugnis von mehr als einem Einzelschicksal. Sie stellt die Frage, was normal ist und was verrückt – und wer das zu welcher Zeit bestimmt. Die umfangreiche Patientenakte erzählt bildreich von diesen Jahren. Die Kulturambulanz stellte die Akte den Geschichtswissenschaftler*innen der Universität Bremen zur Verfügung, die wiederum mit dem Zentrum für Performance Studies kooperieren. So wurde die Akte zur Basis eines dramatischen Textes.

Ein Jahr lang haben Studierende der Geschichtswissenschaft und der Performance Studies sowie Ensemblemitglieder des Theaters der Versammlung in einem fächerübergreifenden Projekt forschenden Studierens ihre unterschiedlichen Perspektiven auf den Fall Hedwig D. zueinander in Beziehung gesetzt. Unter der Regie des Berliner Gastregisseurs Tobias Winter, eines ausgewiesenen Experten für die Dramatisierung theaterferner Texte, ist ein Stationen-Theater  durch die Leben der Hedwig D. entstanden. Dabei entscheidet die Inszenierung die Frage nach Normalität und Verrücktheit nicht. Sie macht vielmehr das Wanken von Selbstverständlichkeiten erfahrbar, wenn sie unterschiedliche Spielweisen anbietet, um sich Hedwig D. zu nähern. Ein dokumentarisches Theater mit seinem Anspruch an Realismus wäre diesen Aufgaben nicht gerecht geworden, daher agiert die Inszenierung in einer komplexen Vielfalt experimenteller Dramaturgien. Hierzu haben wir uns verschiedener Montagetechniken bedient, z.B. Briefe in dialogische Szenen umgewandelt, aber auch immer wieder die Rauheit des Textmaterials an sich szenisch ausgearbeitet, was den „Dialog“ zwischen Institution und Individuum wahrnehmbar werden lässt. Die vier Aufenthalte von Hedwig D. in Ellen dienen als inszenatorische Grundstruktur in vier Akten, die Lücken zwischen den Aufenthalten markieren Zwischenspiele. Zudem spielen die vier Akte an unterschiedlichen Orten und in unterschiedlichen theatralen Modi. So haben sich mehrere in sich stimmige Varianten von der Zeit der Patientin im St. Jürgen-Asyl ergeben, wobei das Fragmentarische der Akte teils ausgestellt und teils mit fiktionalen Elementen gefüllt wird. In der Inszenierung wird die „Andersartigkeit“ von Hedwig D. in den Kontext von Zeitgenoss*innen gestellt, die bis heute für ihr abweichendes Verhalten ikonisiert werden.

 „…die Sünde des Andersartigen zu riskieren“, schlägt auch Antonin Artaud, bedeutender Theaterreformator mit Psychiatrie-Erfahrung, vor, wenn er in „Van Gogh oder der Selbstmörder durch die Gesellschaft“ über die Psychiatrie als Instrument der gesellschaftlichen Unterdrückung von Andersartigen spricht. Während Hedwig D. in der Anstalt ans Bett gefesselt ist, entflammt sich der Bremer Künstlerstreit am Ankauf eines Van-Gogh-Gemäldes durch die Kunsthalle. In den folgenden Jahren wird er sich zu einer nationalen Debatte über den Wert des Andersartigen (und des Nichtdeutschen) für die Kunst steigern. Seine Vehemenz wirft die Schatten des Ersten Weltkriegs voraus. Auch heute ist es gesellschaftlich notwendig, dass wir uns mit der Frage nach dem Wert des Andersartigen konfrontieren. Die Inszenierung lädt dazu ein, dieser Frage im Kontext der Geschichte und der Geschichten in die Gegenwart zu folgen und sich zu ihrem existentiellen Appell zu verhalten.

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1. PROLOG    im Foyer

2. DER ERSTE AUFENTHALT    in der Klinik: „Sie wollen sich doch nicht entmündigen lassen?“

3. DIE FRAU IM BAUM    „Eines Tages wird van Goghs Malerei, bewaffnet mit Fieber und

guter Gesundheit, zurückkehren…“

4. DER ZWEITE AUFENTHALT   Fr. Dr.: Wo raus? HD: Sag ich nicht – kann man nicht überall raus?

5. ARTAUD.  „UND das ist die wahre Geschichte der Dinge, so wie sie sich wirklich

ereignet hat“

6. FRANZ   „Warum liege ich im Bett? Etwa weil sie befürchten ich laufe fort wenn

ich auf bin…“

7. SISYPHOS CHOREOGRAPHIE   Von der Vergeblichkeit

8. DER DRITTE AUFENTHALT   Verstrickung „… oft unter der Decke, mit geschlossenen Augen“

9. FRAGENKASKADE   „Wer bin ich? Was sind das für Leute hier?“

10. KASPERLETHEATER   Happ happ happ ich fress euch alle auf…

PAUSE

11. TREPPENSZENE   Ich muss nach Amerika

12. DER VIERTE AUFENTHALT   Aus den Akten geht ungefähr folgendes hervor…

13. REST DES LEBENS   Ein kleines bisschen Glück

ENDE

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mit

PAULA BEHRENS | FRANZINA BRAJE | ANNE STORM | SIMON MAKHALI | CHIARA LOTTERI | ANNIKA PORT | LIA BRINKMANN | VERA BARTELS / NEELE VON DÖHREN | MARLENE HAUSOTTE | DIETRICH QUADT | MAIK SCHELING / ROBIN BRAUN | NICOLAS HASLBECK | MAX KONEK | MARCEL OBST | DANIEL STICKAN | MARIE RUNGE

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DR. ANNA SUCHARD, SIMON MAKHALI   dramaturgie & produktionsleitung

COSIMA WANDA WINTER   kostümbild

JAN SENGSTAKE   licht

MICHÈLE LEDER   regieassistenz

PROF. DR. CORDULA NOLTE,   wissenschaftliche begleitung, transkriptionen, begleitheft

STUDIERENDE DER GESCHICHTSWISSENSCHAFT

DIRK VAIHINGER    filmische dokumentation

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TOBIAS WINTER    text, bühne, regie

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produktion

ZENTRUM FÜR PERFORMANCE STUDIES, leitungskollektiv CA.SI.AN / KULTURAMBULANZ IM KLINIKUM BREMEN-OST / INSTITUT FÜR GESCHICHTSWISSENSCHAFT, leitung PROF. DR. CORDULA NOLTE

dank an

LANDESBEHINDERTENBEAUFTRAGTER BREMEN / UNIVERSITÄT BREMEN / WIN FONDS